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5 Minuten mit Anne Graue und Tianyu Yuan zum Thema:“Ich nehme mein Wissen und gehe…” – warum modernes Wissensmanagement wichtig ist

Jura ist bekanntermaßen Kopfarbeit. Wie leistungsfähig eine Rechtsabteilung ist, hängt entscheidend davon ab, wie schnell und scharfsinnig die juristischen Köpfe Einschätzungen abgeben und praktische Lösungen erarbeiten können. Doch nur wenigen Organisationen gelingt es bisher, das im Rahmen der Geschäftsprozesse generierte juristische Wissen effizient zu sichern und produktiv zu nutzen. Wie gefährlich und vor allem teuer das werden kann wird deutlich, wenn plötzlich die Nachricht des In-House Counsel kommt: “Ich nehme mein Wissen und gehe …”

Vor welchen Problemen steht das Unternehmen dann?

Anne Graue11:42: In Rechtsabteilungen ist der Schaden, der durch unzureichend koordinierte Personalwechsel verursacht wird, enorm groß: Mühsam aufgebautes In-House Wissen und teuer eingekaufte Expertise von Kanzleien kann so einfach verloren gehen. Der Mitarbeiter scheidet aus, das Postfach wird deaktiviert und alle Entwürfe und Gutachten sind weg, wenn kein effizientes Knowledge-Management betrieben wurde.

Tianyu Yuan: Der hohe Preis des nicht wieder auffindbaren Wissens besteht aber nicht nur darin, dass zeitaufwendig Arbeitsergebnisse neu geschaffen werden müssen, die eigentlich schon existieren. Die häufig noch teurere Seite der Medaille besteht darin, dass durch die ineffiziente Wissensnutzung Geschäftsprozesse verzögert werden und dem Unternehmen dadurch Umsätze in Millionenhöhe entgehen: Man denke z.B. an aus juristischen Gründen verschleppte Genehmigungsverfahren für Gebäude, Medikamente oder andere Produkte, bei denen jeder verzögerte Tag immense Umsatzeinbußen bedeutet.

Was muss eine Rechtsabteilung tun, um solche Probleme zu vermeiden?

Anne Graue11:43: Ein wichtiger erster Schritt ist es zu erkennen, dass Knowledge Management mehr bedeutet, als nur Dokumente abzuspeichern. Viele In-House Counsel, die ich bisher kennengelernt habe, arbeiten bereits mit einer Art Wissensmanagement-System, aber ohne das volle Potenzial zu nutzen. Häufig wird das Tool nur als Archiv verwendet, in dem Dokumente verstauben und kaum wiedergefunden werden können. So wird einerseits die Zeit der eigenen Mitarbeiter darauf verwendet, ein Tool kontinuierlich mit Daten zu füttern, welches andererseits niemals zum eigentlichen Zweck verwendet wird: Wissen zu sammeln, um es produktiv nutzen zu können. Außerdem sind viele Tools extrem langsam. Niemand hat Zeit und Lust, einem System bei der Arbeit zuzusehen.

Tianyu Yuan: Wer hochperformant mit juristischen Inhalten arbeiten möchte, braucht ein System, das kein Archiv, sondern eine produktive Wissensbasis ist. Die meisten Dokumentenmanagement-Systeme sind nicht dafür ausgelegt. Dort steht die Revisionssicherheit im Fokus, nicht die juristische Arbeitseffizienz. Herkömmliche Wissensmanagement-Programme kranken daran, dass sie aufwendig manuell gepflegt werden müssen. Was Juristen eigentlich wollen, ist keine Wissensablage, sondern ein intelligenter Wissensassistent, der sie bei der täglichen Arbeit mit dem nötigen Wissen versorgt, effizientes Arbeiten ermöglicht und automatisch die neuen Arbeitsergebnisse in die Wissensbasis integriert, sodass in Zukunft auch damit gearbeitet werden kann.

Gerade in der Corona-Krise kämpfen Rechtsabteilungen noch stärker mit Budgetbeschränkungen. Warum ist gerade jetzt Wissensmanagement wichtig?

Anne Graue11:44: Gerade in Krisenzeiten ist effizientes Arbeiten besonders wichtig. Neben den alltäglichen Aufgaben kommt noch das Krisenmanagement mit etlichen neuen juristischen Fragestellungen hinzu. Deshalb braucht es ein Wissensmanagement, das die Arbeit schneller macht. Dieses muss dem In-House Counsel ermöglichen, schnell auf bestehende Arbeitsergebnisse zuzugreifen, um häufig wiederkehrende Fragen schnell und einheitlich beantworten zu können. Dadurch bekommt das Legal Department genügend Zeit, um sich strategisch wichtigen Fragen zu widmen und kreative Lösungswege zu finden, die einen echten Mehrwert erzeugen, statt immer nur “nein” zu sagen. So wird die Rechtsabteilung zum Legal Enabler statt zum gefürchteten Blocker.

Tianyu Yuan – Das Potenzial der Rechtsabteilungen, als Legal Enabler zu wirken, wird aktuell bei weitem nicht ausgeschöpft. Eine Umfrage unter vielen Chefjuristen in Technologieunternehmen aus diesem Jahr hat ergeben, dass 67% sich von wenig werthaltiger Arbeit überhäuft fühlen und deshalb die Kapazitäten für die strategisch entscheidenden Fragen nicht ausreichen.

Apropos Potenzial: Wie seht ihr die Synergien zwischen Wissensmanagement und den Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz?

Tianyu Yuan11:45: Tatsächlich ist es gerade vor dem Hintergrund praktischer KI-Anwendungen wichtig, dass sich Rechtsabteilungen über das eigene Wissen neu Gedanken machen. Wenn wir heute über KI sprechen, geht es im Wesentlichen um maschinell lernende Systeme. Diese sind aber auf Trainingsdaten angewiesen, um ein bestimmtes Lernziel erfüllen zu können. Wenn das eigene Wissensmanagement neu aufgesetzt wird, kann man die Erzeugung von Trainingsdaten on the job systematisch mit einplanen. Das eröffnet dann ganz neue Möglichkeiten, wie z.B. juristische Recommender Systeme für häufige wiederkehrende Rechtsfragen oder gar die Automatisierung ganzer Arbeitsprozesse, die deutlich über die heute etablierten Expertensysteme hinausgehen.

Anne Graue: Ja, ein solches System könnte die Geschwindigkeit und Qualität der Rechtsberatung entscheidend verbessern. Ich würde mir z.B. wünschen, dass ein intelligentes System mich auf Rechtsprechungsänderungen zu bestimmten Themen hinweist und mir die Dokumente zeigt, welche betroffen sind. Dadurch kann sichergestellt werden, dass beispielsweise Verträge immer up-to-date sind und Risiken vermieden werden.

Das klingt absolut spannend, aber auch ziemlich komplex. Wie sehen sinnvolle erste Schritte aus, um ein effizientes Wissensmanagement zu etablieren?

Tianyu Yuan11:46: Durch das große Interesse an Legal Tech und Legal Operations sind Rechtsabteilungen in letzter Zeit zunehmend mit Themen rund um Business Process Modelling, Six Sigma, Design Thinking, Lean UX und agile Methoden in Berührung gekommen. Diese Methoden zu beherrschen ist unerlässlich, wenn innovative Digitalisierungsprojekte gelingen sollen. Wichtig für den Start ist auch, dass man nicht gleich dazu antritt die ganze Rechtsabteilung automatisieren zu wollen. Vielmehr bietet es sich an, zunächst ein relevantes, aber abgegrenztes Problem zu identifizieren, an dem man in Form eines Proof of Concept zügig den Wert einer neuen Lösung demonstrieren kann. Dieser schnelle Erfolg kann dann genutzt werden, um weitere Digitalisierungsschritte zu gehen. Das ist nicht nur ressourceneffizient, sondern sorgt häufig auch für mehr Akzeptanz in der Belegschaft.

Anne Graue:

Es ist sehr wichtig, vor dem Einkauf eines Tools alle Bereiche, die hiermit arbeiten werden abzuholen. Dies gelingt z.B. mit der Bildung einer Task-Force, deren Mitglieder sodann in ihren Abteilungen als Ambassador für die Lösung agieren. Digitale Transformation funktioniert nur, wenn alle Parteien abgeholt sind und der Prozess klar definiert ist. Denn eine Technologie kann noch so gut sein – wenn sie von Nutzern nicht akzeptiert und in die tägliche Arbeit eingebunden wird, ist das Projekt zum Scheitern verurteilt.

Außerdem ist es bei digitalen Innovationen und der Auswahl geeigneter Tools auch sehr wichtig, die Zukunftsvision mit einzubeziehen und etwas Fantasie zu wagen: Think big! Wie sähe die Lösung des Problems in einer ideal digitalisierten Rechtsabteilung aus? Schließlich will man mit einer neu eingeführten Lösung nicht nur 1-2 Jahre arbeiten, sondern langfristig Spaß daran haben.

Anne Graue

Anne Graue ist Legal Counsel (Regulatory Law & Product Compliance) bei Volkswagen AG. Zuvor arbeitete sie als Associate General Counsel bei TIER Mobility GmbH – einem hyper-growth Start-Up im Bereich der e-Mobilität. Ihre Hauptverantwortlichkeiten sind Commercial, Compliance und Arbeitsrecht. Zu ihren früheren Erfahrungen gehörte die Position als Legal Counsel bei der AUDI AG und die Arbeit als Strafrichterin sowie Associate bei Clifford Chance. 

Tianyu Yuan

Tianyu Yuan ist CEO der Codefy GmbH – einem Technologie-Startup, das sich mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz im Rahmen der juristischen Wissensarbeit befasst.

Sein Interesse an der Automatisierung juristischer Entscheidungen verfolgt er auch wissenschaftlich. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg und Visiting Researcher an den Universitäten Oxford und Cambridge. Davor war er als Jurist für eine führende internationale Wirtschaftskanzlei in Frankfurt und London tätig.

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